Te Waimate, Ende März 1845

 

Matui klopfte das Herz bis zum Hals, als er die Mission in der Ferne auftauchen sah. Allein der Gedanke, gemeinsam mit Makere nach Kaikohe zu gehen, hatte ihn am Leben erhalten. Noch einmal liefen die letzten Wochen vor seinem inneren Auge ab.

  Wie er tagelang zwischen Leben und Tod dahinvegetiert war und schließlich die Kugel aus eigener Kraft aus seinem Körper entfernt hatte. Die Narbe an seinem Oberarm erinnerte ihn an die schier unerträglichen Schmerzen, die er sich dabei zugefügt hatte. Es stand ihm bildlich vor Augen, wie er an jenem Tag, an dem er das Schlimmste überstanden hatte, zu Matui geworden war. Und wie er sich schließlich das Tattoo im Gesicht hatte machen lassen, um auch nach außen zu zeigen, dass er nie wieder ein Pakeha sein wollte. Damit hatte er nicht einmal warten können, bis er in Kaikohe bei Hone Heke war. Er hatte sich das Tattoo von einem alten Maori machen lassen, und zwar ein ganz ähnliches, wie es sein Vater voller Stolz getragen hatte. Er hatte lange darüber gegrübelt, welchen Namen er tragen sollte, und sich schließlich nicht für den seines Vaters entschieden, sondern den seines großen Vorbildes und des Mannes, der ihn zu seinen Wurzeln zurückgeführt hatte. Hone Heke.

  Vor Bella Mortons Haus atmete er noch einmal tief durch. Dann betrat er die Veranda und klopfte an die Tür. Ein Strahlen ging über sein Gesicht, als ihm Ripeka öffnete. Ohne Vorwarnung riss er die Maori an sich und verkündete übermütig: »Dich nehme ich auch mit nach Kaikohe.« Nachdem er sie ein paarmal im Kreis herumgeschleudert und wieder auf dem Boden abgesetzt hatte, bemerkte er ihr versteinertes Gesicht. Ein eisiger Schreck durchfuhr seinen Körper.

  »Es geht ihr doch gut, oder?«, fragte er bang.

  »Komm erst einmal ins Haus, mein Junge«, erwiderte Ripeka und ließ ihn vorangehen.

  In einem Sessel sah er Makere sitzen. Sie blickte zwar in seine Richtung, aber in ihrem schmal gewordenen Gesicht war keinerlei Regung zu erkennen. Matui stürzte auf sie zu und zog sie fest an seine Brust.

  »Ich bin so froh, dass ich endlich bei dir bin. Ich wäre früher gekommen, aber eine Kugel in meinem Arm hat mich fast umgebracht. Doch jetzt kann uns nichts mehr trennen. Ich bringe dein Kind und dich sicher nach Kaikohe.«

  Erst als er bemerkte, dass sie wie eine leblose Puppe in seinen Armen hing, ließ er sie los und sah sie entsetzt an.

  »Makere, was ist los? Sprich mit mir!«, flehte er sie an, doch Maggy zeigte keinerlei Regung. Sie schien an ihm vorbei ins Leere zu starren.

  Voller Panik drehte er sich zu Ripeka um. Sie hatte Tränen in den Augen. Genau wie Bella Morton, die Matui vorher gar nicht wahrgenommen hatte.

  »Was ist geschehen? Ist etwas mit ihrem Kind?«

  Die beiden Frauen schwiegen, bis schließlich Bella zögernd das Wort ergriff.

  »Sie ist seit über zwei Wochen stumm und starrt Löcher in die Luft. Es begann an dem Tag, an dem sie das Kind fortgegeben hat.«

  »Was heißt fort? Ist es tot?«

  »Nein, sie hat es dem Reverend überlassen«, erwiderte Ripeka.

  »Dem Reverend?«

  Matui blickte entgeistert von den beiden Frauen zu seiner Schwester, bevor er sich vor Maggy auf den Boden hockte und mit weicher Stimme fragte: »Sag mir doch bitte, was geschehen ist.«

  Maggy aber rührte sich nicht. Unverwandt stierte sie an allen vorbei in die Ferne.

  »Woher wisst ihr, dass er es mitgenommen hat?« Matui hatte sich an die beiden Frauen gewandt. Seine Augen waren vor Schreck geweitet.

  »Ich habe Mister Carrington mit dem Korb im Arm auf der Straße gesehen. Als ich ins Haus trat, lag Maggy regungslos am Boden. Auf dem Tisch fand ich das hier.« Ripeka öffnete die Schublade des Tisches und holte ein Bündel Geldscheine hervor. »Ich habe sie gefragt, was geschehen ist, aber sie hat mir nicht geantwortet. Und seitdem ist sie nicht mehr ansprechbar. Sie sitzt nur so da. Nur manchmal bewegt sie ihre Arme hin und her, als würde sie die Kleine wiegen.«

  »Aber warum hat sie ihm das Kind gegeben? Hat sie es ihm etwa verkauft?«

  »Das haben wir uns auch gefragt, und ich bin noch am selben Tag zur Schule gegangen, dorthin, wo dein Vater eigentlich übernachten sollte...«

  Matui unterbrach sie schroff. »Mister Carrington ist nicht mein Vater!«

  »... wo Mister Carrington und June übernachten sollten. Sie waren erst an jenem Tag aus Kororareka in die Mission gekommen. Er hat deine Mutter noch beerdigt...«, fuhr Ripeka ungerührt fort, doch Matui unterbrach sie erneut.

  »Emily Carrington ist auch nicht meine Mutter, aber für sie werde ich trotzdem immer einen Platz in meinem Herzen bewahren. Für ihn nicht.« Seine Augen glühten vor Hass.

  Ripeka zog es vor zu schweigen.

  »Sprich weiter!«, forderte er sie harsch auf.

  Ripeka zögerte, doch dann fuhr sie fort. »Bella und ich wollten von ihm wissen, was zwischen ihm und Maggy vorgefallen war, doch sie waren nicht mehr da. Man sagte uns, sie seien, kurz nachdem Mister Carrington mit dem Kind aufgetaucht war, überstürzt aufgebrochen.«

  »Vielleicht ist es besser so, dass sie das Kind der Schande los ist«, erwiderte Matui mit hasserfüllter Miene.

  Ripeka zuckte zusammen.

  »Was weißt du davon?«, fragte sie erschrocken.

  »Tiaki ist in meinen Armen gestorben, er hat mir anvertraut, dass ein weißer Mann ihr Gewalt angetan hat, und ich habe ihm geschworen, herauszufinden, wer es war, und mich an dem Kerl zu rächen. Er wird durch meine Hand sterben.« Matui durchbohrte die beiden Frauen förmlich mit seinem Blick.

  »Wisst ihr, wer es war?«

  Bella Morton schüttelte stumm den Kopf.

  »Und du, weißt du etwas?«

  »Nein, ich weiß gar nichts«, entgegnete Ripeka.

  »Gut, dann bringe ich sie jetzt nach Kaikohe. Und hoffe, dass sie unter ihresgleichen aus ihrem Schock erwacht.« Matui warf seiner Schwester einen kämpferischen Blick zu, doch er wandte sich rasch ab, als er sie unverändert teilnahmslos vor sich hin stieren sah.

  »Packt ihre Sachen«, befahl er. »Ich werde gleich aufbrechen.«

  »Meinst du nicht, es wäre besser, Maggy in meinem Haus zu lassen, bis sich ihr Zustand gebessert hat?«, bemerkte Bella schwach.

  »Nein, Makere gehört zu uns. Bitte, macht, was ich euch sage.«

  Ripeka verließ daraufhin mit gesenktem Kopf das Zimmer, um Maggys Habseligkeiten einzupacken. Bella aber blieb wie erstarrt zurück.

  »Mein Junge, ich glaube dir ja, dass du das Beste für sie willst«, sagte sie nach einer Weile. »Aber das hier ist ihre gewohnte Umgebung, und ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass sie eines Tages wieder spricht und die Alte wird.«

  »Sie wird nie wieder die Alte, denn sie ist keine Pakeha mehr. Nur bei unseren Leuten wird sie sich darauf besinnen, dass sie eine Prinzessin ist.«

  Bella biss sich auf die Lippen. Sie sah ein, dass es keinen Zweck hatte, den jungen Maori vom Gegenteil überzeugen zu wollen. Stattdessen hockte sie sich zu Maggys Füßen und streichelte ihr liebevoll über die Wangen.

  »Maggy, du gehst jetzt mit deinem Bruder nach Kaikohe, aber wenn du mich brauchst - ich werde immer für dich da sein. Du bist in meinem Haus jederzeit willkommen ...« Sie unterbrach sich, weil sie befürchtete, der junge Maori werde sie wegen ihrer Worte zurechtweisen, doch Matui hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen, und seiner Kehle entrang sich ein jämmerliches Schluchzen. Bella wollte dieser Anblick schier das Herz zerreißen, doch sie machte keine Anstalten, ihn zu trösten, sondern überließ ihn seinem Schmerz.

  Erst als Ripeka mit Maggys Köfferchen in der Hand zurückkehrte, hörte Matui zu weinen auf. Er trat auf seine Schwester zu und zog sie vorsichtig aus dem Sessel hoch.

  »Komm, Makere, wir gehen nach Hause«, flüsterte er, während er sie unterhakte. Ripeka drückte ihm den Koffer in die freie Hand. Maggy ging, ohne eine Miene zu verziehen, mit ihm.

  Bella und Ripeka folgten den beiden bis auf die Veranda.

  »Danke für alles, was ihr für sie getan habt«, sagte Matui zum Abschied gequält.

  Kaum waren die beiden aus ihrem Blickfeld verschwunden, als sich Bella und Ripeka weinend um den Hals fielen.

  »Ob das gut geht?«, schniefte Bella. »Nun können wir nichts mehr für sie tun.«

  »Doch, es gibt noch etwas«, bemerkte Ripeka mit tränenerstickter Stimme.

  Bella hörte auf zu weinen und musterte die Maori verwundert.

  »Ich werde auf der Stelle packen«, sagte Ripeka.

  »Packen?«

  »Ja«, seufzte die Maori. »Ich muss das Kind doch beschützen.«

  »Das Kind? Aber du willst doch nicht etwa auch nach Kaikohe gehen?«, fragte Bella entsetzt.

  »Nein, ich meine Maggys Kleine. Ich werde mich nach Auck-land durchschlagen und das Baby suchen.«

  »Ja, und dann? Was willst du machen?«

  »Ich werde die Carringtons finden und für sie arbeiten.«

  »Du willst was?«

  »Ich werde in June Carringtons Haushalt arbeiten.«

  »Aber... aber... ich meine... du glaubst doch nicht im Ernst, dass Walter Carrington dich bei seiner Schwiegertochter arbeiten lässt, obwohl du alles weißt, denn es war doch Henry, der dem Mädchen das Schreckliche angetan hat, nicht wahr? Schau dir die Kleine nur an. Sie ist Emily Carrington wie aus dem Gesicht geschnitten. Ich bin doch nicht blind.«

  »Und genau deshalb wird Walter Carrington sogar ein gutes Wort für mich einlegen und mich seiner Schwiegertochter förmlich andienen.«

  »Du willst ihn erpressen?«

  Ripeka funkelte Bella abschätzig an.

  »Was für ein hässliches Wort. Aber wenn du so willst, ja. Mein Schweigen dafür, dass ich das Mädchen behüte und beschütze und ihm nicht von der Seite weiche, solange ich lebe. Das bin ich Maggy schuldig.«

  »Aber was, wenn Matui erfährt, dass Henry Carrington der Mann ist, den er sucht?«

  »Matui darf es eben nicht erfahren. Niemals! Hörst du? Oder willst du, dass dem unschuldigen kleinen Geschöpf auch noch der Vater genommen wird?«

  »Ripeka, du bist wahnsinnig!«, rief Bella aus. »Wahnsinnig mutig!«

  Das allerdings hörte die Maori nicht mehr, weil sie bereits auf dem Weg zu ihrem Zimmer war, um ihre Sachen zu packen.

  Wenig später kehrte sie mit einem Bündel in der Hand zurück. Unter Tränen verabschiedeten sich die beiden Frauen, und Bella sah der tapferen Maori noch hinterher, als diese längst die Mission verlassen und den ersten grünen Hügel auf ihrem Weg in eine ungewisse Zukunft überquert hatte.

 

 

Der Schwur des Maori-Mädchens
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